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Kapitel 1

 

Nur langsam wach werdend schaute Camina sich desorientiert um, bis ihr endlich klar wurde, wo sie sich befand. Der Computer war so programmiert worden, daß er die Ärzte zuerst weckte, damit diese sich um die anderen Passagiere kümmern konnten.

Schlagartig hell wach und sich ihrer Pflichten bewußt werdend, kletterte sie aus ihrer Schlafkoje und ging zielstrebig zum Überwachungsterminal für die anderen Kältekammern. Vor dem Start hatte sie genaue Anweisungen bekommen, die sie jetzt Schritt für Schritt durchführte. Zuerst entriegelte sie die Schutzvorrichtung mit ihrem Paßwort dann gab sie die nötigen Befehle an den Computer weiter, um auch Kapitän Jenkins und seine Crew aus dem Tiefschlaf zu wecken.

Aufmerksam überwachte die junge Ärztin den Aufwachvorgang, bereit jederzeit einzugreifen, sollte etwas schief gehen. Doch ihre Sorge war umsonst, wie immer arbeitete das System fehlerfrei und schon fünfzehn Minuten später öffnete sich die Schlafkammer des Kapitäns.

Verschlafen richtete er sich auf und schaute um sich.

„Alles in Ordnung, Doc?“ waren seine ersten Worte, als er sie erblickte.

„Alles klar, Kapitän Jenkins. Ihre Mannschaft ist in zehn Minuten ebenfalls bereit.“

Camina drückte ein paar Knöpfe an der Schalttafel.

„Wie geht es Ihnen, Kapitän? Irgendwelche Beschwerden?“

Er schien in sich hinein zu horchen. Dann grinste er und erhob sich langsam aus seiner Kabine. „Endlich fühle ich mich nicht mehr wie in einer Sardinendose! Ich kann diese Art zu reisen einfach nicht ausstehen.“

Er bemerkte ihren irritierten Blick und wurde sofort wieder ernst.

„Tut mir leid, Doc. Mit mir ist alles in Ordnung, nur noch ein wenig kalt. Das gibt sich gleich wieder.“ Er schaute sie einen Moment prüfend an.

„Nach wie vor erscheinen Sie mir sehr jung für so einen wichtigen Auftrag und ich vergesse immer wieder, daß dies für Sie der erste Kälteschlaf ist. Ich dagegen habe schon mehrere hinter mir und bin jedesmal froh, wenn ich es überstanden habe. Wie ist es Ihnen ergangen?“

Camina hatte sich bei seinen letzten Worten zum Computer umgewandt, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie haßte es, wenn er sie auf ihr Alter ansprach. Schon vor ihrer Reise hatte er sich ständig darüber beklagt und scheinbar hatte er nicht vor, daß jetzt zu ändern.

„Mir geht es gut. Keine Probleme. Ich werde jetzt besser Mal nach unseren Passagieren sehen.“

Kapitän Jenkins nickte nur und sie machte sich schleunigst auf den Weg. Solange die anderen noch nicht wach waren, machte sie sich besser unsichtbar. Camina hatte keine Lust auf Streit, schon gar nicht so schnell nach dem Aufwachen. Ihr war schon ein wenig seltsam zumute, was ja auch eigentlich nicht verwunderlich war. Ihrem Körper schien es nichts auszumachen, doch ihr Geist mußte sich erst mal an diese seltsame Situation gewöhnen.

Wenn sie sich klar machte, daß ihr letzter wacher Augenblick in Wirklichkeit schon vierzig Jahre zurück lag, wurde ihr schon etwas mulmig. Ihr schoß die Frage durch den Kopf, wie alt Kapitän Jenkins wohl schon sein mußte, zählte man all seine Kälteschlafphasen zu seinen Lebensjahren hinzu. Sie spann den Faden weiter und fragte sich, wie alt man mittels dieser Technik wohl tatsächlich werden könnte.

Wieder in die Wirklichkeit zurückfindend schüttelte sie über sich selber den Kopf. Hör auf zu spinnen, sagte sie zu sich und blickte prüfend durch den riesigen Raum, den sie gerade betreten hatte.

Er hatte etwa die Größe von zwei Fußballfeldern und war bis in den hintersten Winkel mit Kälteschlafkammern vollgestellt. In der Mitte des Raumes stand ein großes Computerteminal, daß jede einzelne dieser Kabinen genauestens überwachte. Camina ging an den Reihen der Kammern entlang und prüfte die Lebenserhaltungsfunktionen. Aufatmend kam sie schließlich bis zum Computer und bewunderte mal wieder die technische Leistung der Anlage. Wenn man sich vorstellte, daß dieses System vierzig Jahre ohne jedwede Wartung seine Arbeit getan hatte, ohne auch nur eine Fehlfunktion zu verursachen, konnte man wirklich nur staunen.

Die Ärztin schüttelte sich. Obwohl sie in ihrem Beruf ebenfalls sehr auf die Technik angewiesen war, hatte sie immer noch Probleme damit, sich völlig darauf zu verlassen. Und doch hatte sie es getan, hatte dieser Technik sogar ihr Leben für vier Jahrzehnte anvertraut.

Nachdem die junge Frau sich davon überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, ging sie zurück zu ihrer eigenen Schlafkammer und schaute nach den Besatzungsmitgliedern, die inzwischen aufgestanden waren und schon ihren Pflichten nachgingen. Erleichtert registrierte Camina, daß Kapitän Jenkins den Raum verlassen hatte. Nach einer weiteren Begegnung mit ihm stand ihr nicht gerade der Sinn. Bewaffnet mit ihrer Arzttasche ging sie von einem Crewmitglied zum Nächsten und unterzog jedem einen kurzen Gesundheitschek. Mit den Ergebnissen sehr zufrieden zog sie sich in eine ruhige Ecke zurück und brachte die Patientenakten in ihrem Taschencomputer auf den neuesten Stand.

Damit waren ihre Aufgaben fürs erste erledigt denn die übrigen Passagiere würden erst geweckt, wenn sie sich ihrem Ziel näherten.

Eine Weile schaute sie den Mitgliedern der Bordcrew bei der Arbeit zu, doch das wurde ihr schnell langweilig, sie brauchte dringend jemanden, mit dem sie sich austauschen konnte. Entschlossen stand sie auf und machte sich auf den Weg in einen anderen Teil dieses riesigen Schiffes. Nachdem sie ein paar Mal die Monitore in den Gängen zu Rate ziehen mußte, kam sie schließlich ans Ziel. Nur durch die Farbmarkierungen an den Wänden und Türen unterschieden sich die Räume in diesem Teil des Schiffes von denen, die sie gerade verlassen hatte und Camina atmete erleichtert auf, als sie Lani entdeckte, die in diesem Bereich arbeitete. Schnell ging sie hinüber und stellte fest, daß ihre Freundin genauso froh war, sie zu sehen. Die beiden Frauen umarmten sich und gingen Arm in Arm zu einer Sitzecke, um über all das zu sprechen, was sie erlebt hatten. Auch für Lani war es der erste Kälteschlaf und sie konnte einfach noch nicht fassen, daß inzwischen so viele Jahre vergangen waren.

„Aber es ist so, auch wenn wir davon nichts gemerkt haben.“ Camina wies mit einer Hand zum Computer. „Schau dir doch das Datum an. Es war das erste, was ich getan habe, nachdem ich wach war. Es ist wirklich der 1. Juli 2095.“

Lani umschlang fröstelnd ihre Arme. „Ich weis ja daß es stimmt doch es kommt mir so unwirklich vor. Es ist, als hätte ich nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen, ich muß mich erst daran gewöhnen.“

„Mir geht es auch nicht anders Lani. Sicher brauchen wir ein paar Tage, bis wir es richtig begreifen. Da nützen auch die ganzen Schulungen und Übungen nichts, die man uns vor dem Start durchlaufen ließ, in echt ist es doch ganz anders.“

Schweigend saßen die jungen Ärztinnen eine Weile da, dann schaute Camina sich im Raum um.

„Wie ist es bei dir gegangen? Gab es Probleme?“

Lani schüttelte den Kopf. „Absolut nicht. Es lief alles wie am Schnürchen. Ich habe alle Kabinen überprüft und es hat keine Fehlfunktion gegeben.“

„Bei mir auch nicht. Gott sei Dank.“ Camina beugte sich verschwörerisch zu ihrer Freundin. „Jetzt kann ich es dir ja sagen, ich hatte verdammt große Angst, als einzige aufzuwachen und in diesem riesigen Schiff herumzuirren.“

Lani schaute sie überrascht an. „Was denn, du hattest Angst? Das hat man dir aber überhaupt nicht angemerkt. Wir anderen haben darüber geredet, wir hatten alle Schiß, aber du wirktest immer so selbstsicher und unerschrocken.“

Camina grinste schief. “Ja, Tarnung ist alles. Ich hatte Alpträume deswegen.“

Lani kicherte. „Das macht dich mir noch viel sympathischer.“ Sie stand auf und zog ihre Freundin mit sich. „Komm laß uns die anderen suchen und schauen, wie es ihnen ergangen ist. Je mehr wir sind, desto besser.“

 

Eine gute Stunde später saßen sie mit zehn weiteren Ärzten zusammen in einem kleinen gemütlichen Speiseraum und labten sich an dem Essen, das ihnen einer der inzwischen geweckten Köche bereitet hatte. Die Ärzte konnten erst einmal unter sich bleiben, bis der Kapitän neue Anweisungen erteilte und sie genossen es, sich auszutauschen. Jeder berichtete von seinen Erlebnissen während des Aufwachens und gab einen Zustandsbericht über seinen Sektor. Schließlich stand fest, nicht eine der Kältekammern hatte eine Fehlfunktion gehabt, so daß alle zweitausendvierhundert Passagiere sich bei bester Gesundheit befanden. Natürlich würde sich erst nach dem Aufwachprozeß zeigen, ob es auch so blieb, die Chancen dafür waren jedoch äußerst günstig.

Neben Camina und Lani gehörten noch drei weitere Frauen zum Ärzteteam, sie standen sich besonders nahe, auch wenn die anderen älter waren. Greta und Pia waren schon fast fünfzig, Agrima neununddreißig, doch alle drei waren sehr nett und hatten immer ein offenes Ohr für die Probleme ihrer jüngeren Kolleginnen. Besonders Agrima, eine Negerin aus Mittelafrika war immer gut aufgelegt und brachte ihre Kolleginnen stets zum Lachen.

Die übrigen sieben Ärzte setzten sich aus den verschiedensten Altersstufen zusammen, manche von den Älteren hielten sich etwas abseits, doch da sie alle in der gleichen Situation waren, mußten sie so gut es ging miteinander auskommen. Da sie sich alle noch nicht sehr lange kannten, würde wohl erst die Zeit klären, wer sich mit wem verstand. Kapazitäten auf ihren Fachgebieten waren sie alle, sonst wären sie nicht an Bord dieses Schiffes. Natürlich hatten sie vor dem Start einige Zeit miteinander verbracht, doch gab es da so viel zu lernen und zu verarbeiten, daß man sich um persönliche Interessen nicht kümmern konnte. Auch in Zukunft würden die Ärzte wohl kaum viel miteinander zu tun haben, doch in diesem Moment hatten sie etwas Muße.

Plötzlich stand Grodin, einer der jüngeren Ärzte auf und trat zu einem der Fenster. Aufgeregt winkte er seine Kollegen zu sich heran.

„Schaut nur! Ich glaube, wir haben unser Ziel schon erreicht.“

Alle sprangen auf und eilten zu ihm hin, um einen Blick auf ihr neues Zuhause zu erhaschen. Und wirklich, er schien recht zu haben. Vor ihren Augen lag ein Planet, der langsam immer größer wurde, so als würde das Schiff direkt darauf zusteuern. Fasziniert beobachteten die Reisenden die türkis schimmernde Kugel, an der sie nach und nach immer mehr Einzelheiten erkennen konnten. Schließlich füllte die Kugel das ganze Fester aus und durch die Wolkendecke konnten sie schon einzelne Kontinente und Meere ausmachen.

Aufgeregt machten sie sich gegenseitig auf Besonderheiten aufmerksam. Jeder beobachtete gebannt, wie dieser Planet, den sie bis jetzt nur von Photos kannten, immer realer wurde. Weit beeindruckender als jede Photographie erschien er ihnen und sie malte sich aus, wie es da unten wohl wirklich war.

Erst Kapitän Jenkins holte sie aus ihrer Begeisterung zurück.

„Wie Sie sicher bereits erkannt haben, sind wir an unserem Bestimmungsort eingetroffen. Der Planet Globena liegt direkt vor uns, wir werden unsere Umlaufbahn in wenigen Minuten erreichen. Ich bitte Sie nun, mit der Einleitung der Aufwachphasen zu beginnen. Sie alle kennen unseren Zeitplan und ich hoffe daß es keine Verzögerungen oder Pannen gibt. Wenn alles nach Plan verläuft, wird der erste Erkundungstrupp das Schiff in drei Stunden verlassen. Ich erwarte in zwei Stunden Ihren vollständigen Bericht. Kapitän Jenkins, Ende."

 

Hastig eilten die Ärzte zurück zum Tisch, steckten sich noch schnell etwas zu Essen in die Taschen und machten sich schleunigst auf den Weg zu ihren Abteilungen. Nun hatten sie alle Hände voll zu tun, nach einem bestimmten Plan mußte in den nächsten fünf Stunden jeder von ihnen circa zweihundert Menschen aus dem Kälteschlaf wecken. Im Gegensatz zu den Ärzten und der Crew des Raumschiffes, gab es für die Passagiere keine Aufgaben und Verpflichtungen, außerdem waren viele der Schläfer Kinder, die sicher völlig verwirrt waren und aufmerksame Betreuung benötigten.

 

Camina warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Planeten, dann verließ sie den Aufenthaltsraum. Wie schön wäre es, wenn sie hier bleiben und ihre zukünftige Heimat genau betrachten könnte. Wer wußte schon, ob sie dazu jemals wieder Gelegenheit hatte, vielleicht würde sie nie wieder ein Raumschiff betreten.

Energisch schüttelte sie den Gedanken ab und beeilte sich, in ihren Sektor zu kommen, schließlich hatte sie eine Aufgabe, auf die sie ja auch ziemlich stolz war. Lange nicht jeder Arzt, der sich für dieses Projekt beworben hatte, war von der Kommission angenommen worden. Hunderte wurden geprüft und dann zurück geschickt, nur ein Duzend waren am Ende übrig geblieben. Camina war mit Recht stolz auf diese Auszeichnung, auch wenn sie vieles zurückgelassen hatte, was sie vielleicht später bereuen würde. Hier zählte nur der Augenblick und die riesige Aufgabe, die sie vollbringen wollten.

 

Kapitän Troy Jenkins gab seinen Leuten genaue Anweisungen, vorerst würde das Schiff in einer sicheren Umlaufbahn um den Planeten verharren. Nachdenklich starrte er auf die fremde Welt und versuchte sich vorzustellen, was dort auf sie zukommen würde. Er hatte schon viele neue Welten erkundet, doch noch nie war er auf einer gelandet, um dort gleich tauende Menschen abzusetzen und ihnen dabei zu helfen, sich eine Zukunft aufzubauen.

Nach wie vor hielt er die Entscheidung der Weltvereinigung, die sich aus den vier großen Kontinentalregierungen, den Asiaten, Afrikanern, Amerikanern und Europäern zusammensetzte, für falsch. Bisher hatten nur ein paar unbemannte Sonden diesen, vierzig Jahre von der Erde entfernt gelegenen Planeten besucht. Nur anhand ihrer Daten waren die Verantwortlichen zu der Überzeugung gekommen, daß dies der richtige Planet für eine Kolonie der Menschheit sei. Fahrlässig und unverantwortlich hatte Jenkins widersprochen, doch gegen die geballte Macht der Vereinigung war er nicht angekommen. Auf der Erde hatte sich die Situation in den letzten Jahrzehnten so zugespitzt, daß die Wissenschaftler keinen Ausweg mehr wußten. Die Überbevölkerung hatte, vor allem durch die Geburtenexplosion in den asiatischen und arabischen Ländern, dramatische Dimensionen angenommen und schon seit Jahren suchten die Verantwortlichen nach dem richtigen Planeten für eine Kolonie.

Bereits zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war der erste, wichtige Schritt zur Erforschung des Weltalls unternommen worden. Mit der Errichtung des Large Binocular Teleskops auf einem Berg in Nordamerika, mit dem Sterne und Planeten bis zu einer Entfernung von rund 14 Milliarden Lichtjahren erforscht werden konnten, rückte der Traum der Menschheit, erdähnliche Planeten zu entdecken in greifbare Nähe. Natürlich dauerte es noch Jahrzehnte, bis die Menschheit in noch entferntere  Regionen des Weltraums schauen konnte und die Raumfahrt so weit fortgeschritten war, daß man an eine Reise, wie die der Phönix auch nur denken konnten, doch heute, neunzig Jahre später, war es so weit.

Jenkins hatte sich mit aller Kraft gegen diesen Auftrag gewehrt, ahnend daß es leicht anders kommen konnte, als die Menschen auf der Erde es sich ausmalten. Doch auch hier hatte er sich nicht durchsetzen können, seine Erfahrung und sein Wissen wurden ihm schließlich zum Verhängnis. Sie bürdeten ihm die Verantwortung für über zweitausend Seelen auf und schon zu Beginn der Reise hatten ihn dunkle Vorahnungen gequält.

Der erste Offizier Balder riß ihn aus seinen Gedanken. „Sir, wir haben die Umlaufbahn erreicht und warten auf weitere Befehle.“

Jenkins wandte sich vom Bildschirm ab. „Verstanden. Tasten Sie die Oberfläche des Planeten mit allen Sensoren ab. Wir suchen nach Lebenszeichen, Energiequellen und überhaupt nach allem Ungewöhnlichen.“

Balder gab den Befehl an die zuständigen Crewmitglieder weiter.

„Machen Sie die Fähren klar, in spätestens drei Stunden schicken wir das erste Team zu einem Erkundungsgang aus. Stellen Sie sich eine Mannschaft zusammen, Erster. Ich möchte das Sie dieses Team führen.“

Irritiert schaute Balder ihn an. „Ich dachte, Sie wollten selber dabei sein, Kapitän.“

„Ich denke, ich werde an Bord nötiger gebraucht. Und nun machen Sie sich an die Arbeit.“

Balder machte auf dem Absatz kehrt. „Jawohl, Sir.“

 

Für Camina und die anderen Ärzte gab es jetzt jede Menge zu tun. Nachdem sie das Programm des Computers gestartet hatten, wurden alle fünfzehn Minuten zehn Menschen aus dem Kälteschlaf geweckt. Sie alle mußten sorgfältig untersucht und in einem anderen Teil des Schiffes untergebracht werden. Für die letzte Aufgabe waren Stewards zuständig, die zu den ersten gehörten, die ihre Schlafkabinen verließen.

Camina hetzte von einer Kältekammer zur nächsten, bis jetzt hatte es noch keine Zwischenfälle gegeben doch das hieß nicht, daß es so blieb. Aus Erfahrung wußte man, daß es immer wieder mit älteren Menschen Probleme gab, deren Herz die große Belastung des Kälteschlafes nicht verkraften konnte. Auch kam es vor, daß trotz gründlicher Voruntersuchungen der Passagiere seltene Krankheiten übersehen wurden, die unter diesen extremen Verhältnissen zu Problemen führen konnten.

Die junge Ärztin strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus der Haarspange gelöst hatte und schaute auf ihre Armbanduhr. Eineinhalb Stunden waren vergangen und es hatte noch keinen Alarm gegeben. Gebe Gott, daß es so blieb doch kaum war der Gedanken zu Ende gedacht, schreckte sie ein jaulender Warnton auf. Camina schaute sich suchend um und entdeckte sofort den Ausgangsort, die Kabine eines circa dreizehnjährigen Jungen. Die Abdeckung war offen, doch der Junge lag da wie tot. Schnell überprüfte sie seine Vitalfunktionen, keine Atmung und kein Puls. Sofort begann sie mit den Widerbelebungsmaßnahmen, wobei ihr zwei der Schwestern, die inzwischen ihre Arbeit aufgenommen hatten halfen. Mit vereinten Kräften kämpften sie um das Leben des Kindes doch es schien zwecklos zu sein, keine Reaktion erfolgte auf ihre Versuche, es zu beleben. Schließlich ließ Camina erschöpft die Hände sinken, es hatte keinen Zweck mehr, der Junge war tot.

Die Ärztin schaute wieder auf die Uhr, fast zehn Minuten waren vergangen. Sie schreckte auf, als sie die verzweifelten Schreie einer Frau wahrnahm, die zur Kabine des Jungen drängte und von einigen Männern festgehalten wurde. Es mußte die Mutter sein und Camina fragte sich hilflos, was sie ihr sagen sollte. Sie hatte keine Erklärung für diesen Todesfall, erst die Autopsie würde darüber Klarheit bringen.

Die junge Ärztin gab gerade den Männern ein Zeichen, die Frau loszulassen, als sie hinter sich ein Piepen hörte. Überrascht drehte sie sich um und starrte den Monitor an, auf dem sich deutlich eine Herzkurve abzeichnete. Der Junge lebte! Schnell beugte sie sich über ihn und sah seine Augenlider flattern, als er aus der todesähnlichen Erstarrung erwachte. Irritiert sah er sie an, dann lächelte er. „Sind wir da?“

Camina nickte nur, zu verwirrt, um zu antworten. Wie konnte das möglich sein, der Junge war eindeutig tot gewesen. Sie erhob sich langsam und machte der Mutter Platz, die ihren Sohn in die Arme nahm und immer wieder seinen Namen flüsterte; Tarilo, dieser Name sollte sich für alle Zeiten in das Gedächtnis der jungen Ärztin einbrennen.

Die letzte Stunde der Aufwachphase erlebte Camina wie im Traum, immer wieder sah sie das Gesicht des Jungen vor sich, wenn sie sich um die anderen Passagiere kümmerte. Als alle Kälteschlafkabinen leer waren schaute sie sich suchend nach dem Jungen um, sie wollte ihn auf jeden Fall noch einmal gründlich untersuchen doch konnte sie ihn nirgends entdecken. Sicher hatte seine Mutter ihn mit in ihren Wohntrakt genommen, sie würde ihn schon finden.

 

Langsam näherte sich die Fähre der Oberfläche des Planeten. Wie alle anderen sah auch der erste Offizier der Phönix gespannt aus den Panoramafenstern. Sie hatten die Wolkendecke durchbrochen und unter ihnen breitete sich eine faszinierende Landschaft aus. Ähnlich der Erde lagen verschiedene Kontinente in einem türkis schimmernden Meer und so weit der Blick reichte reiten sich bewaldete Höhenzüge und fruchtbare Ebenen aneinander, immer wieder durch Wasseradern und Seenplatten unterbrochen.

Wüste er es nicht besser, würde er annehmen, sich der Erde zu nähern, so ähnlich erschienen die beiden Welten. Die Einzelheiten der Region, die sie sich für ihren ersten Erkundungsgang ausgesucht hatten, wurden immer deutlicher, begierig nahmen seine Augen jede Kleinigkeit auf.

Zum Glück hatte wenigstens ihr Pilot die Augen auf seinen Geräten gelassen, so daß er keine Bruchlandung hinlegte. Sachte und sanft setzte die Fähre auf und die Türen entriegelten sich mit einem Zischen. Die Augen der vierzehn Mann starken Besatzung richteten sich auf den ersten Offizier, jeder wartete auf den Befehl zum Aussteigen.

„Also gut Leute, machen wir uns an die Arbeit. Schwärmt wie besprochen in Dreiergruppen aus und erkundet die Umgebung. Wir bleiben über Funk miteinander in Verbindung und ich erwarte über jede ungewöhnliche Entdeckung eine Meldung. In zwei Stunden treffen wir uns  wieder hier.“

Die Angehörigen der Schiffsbesatzung bestätigten formell, die zivilen Passagiere nickten zustimmend dann drängten alle nach draußen.

Wunderbar warme, duftende Luft umgab sie, als sie die Fähre verließen, es roch wie an einem Sommertag in einem Naturpark auf der Erde, jedoch ohne den Staub und Dunst, der dort über allem hing. Selbst die erfahrensten Leute der Bordcrew konnten sich einen Ruf der Begeisterung nicht verkneifen, so sehr beeindruckte sie die Schönheit dieses Planeten.

Auch Marco Balder war hingerissen, für ihn war es der erste fremde Planet, den er betrat, man hatte ihn frisch von der Offizierschule für diesen Auftrag angeworben. Er hatte schon immer von anderen Planeten geträumt und auch schon viele Berichte über erste Erforschungen gesehen, doch keiner dieser neuen Planeten war ihm so wunderschön und vollkommen erschienen. Nachdem er sich neugierig umgesehen und seine Lungen mit dieser erfrischenden Luft gefüllt hatte, rief er sein Team zu sich und machte sich mit ihnen auf den Weg. Jedem Crewmitglied waren zwei Zivilisten zugeteilt, meist Wissenschafter und Biologen, ihm unterstanden Doktor Victor Gartmann, ein Geologe und eine hübsche Biologin namens Rory Kantara.

 

Im Moment hatte Camina nichts zu tun. Sie wanderte gedankenverloren durch das Schiff und grübelte über den Jungen nach. Inzwischen hatte sie in ihren Unterlagen nach vergleichbaren Fällen gesucht, doch ehe sie den Jungen nicht noch einmal untersucht hatte, konnte sie keinen wirklichen Vergleich anstrengen.

Verwirrt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Sicher, es hatte immer schon Zwischenfälle während der Kälteschlafphase gegeben. Menschen waren gestorben, auch schon Kinder, doch Tarilos Fall erschien ihr einfach irgendwie unwirklich, so als wäre das, was mit ihm geschehen war, nur ein Traum.

Ärgerlich schüttelte die junge Ärztin den Kopf, als sie sich ihrer Gedanken bewußt wurde. Sie durfte sich da nicht hinein steigern, wahrscheinlich war sie nur durch die extreme Situation so durcheinander. Schließlich war dies ihr erster Tag nach vierzig Jahren Kälteschlaf, kein Wunder also, wenn ihr da etwas seltsam zumute war.

Suchend schaute Camina sich um und als sie sich orientiert hatte, machte sie sich auf die Suche nach Lani. Bei ihr würde sie sicher auf andere Gedanken kommen.